Kenia: Proteste der Generation Z - Darling des Westens, verhasst im eigenen Land (2024)

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Kenia: Proteste der Generation Z - Darling des Westens, verhasst im eigenen Land (1)
Globale Gesellschaft
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In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechendeAnsätzefür die Lösung globaler Probleme.

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Sie tanzten, sie sangen, sie riefen: »Wir sind friedlich!« Tausende junge Protestierende füllten am Vormittag die Innenstadt von Nairobi. Kenia erlebt derzeit eine Welle des Protests, wie es sie noch nie zuvor gegeben hat in dem Land: Die Gen Z geht auf die Straße, junge Erwachsene, die genug haben von ausufernder Korruption und einer Regierung, die immer weiter an der Steuerschraube dreht. Sie koordinieren sich über Social Media, ohne Anführer, aber mit umso mehr Wut im Bauch.

Anlass der Proteste ist ein neues Gesetz, das weitere Steuererhöhungen vorsieht und heute im Parlament abgenickt wurde. Doch es geht um viel mehr als nur diese Neuerung. »Wir haben die Nase voll, unsere Generation lässt sich nicht mehr unterdrücken. Wir wollen dieses Regime absetzen«, sagt Tiffany Mwangi. Sie versteckt sich hinter einer Hausecke, um nicht von den Tränengaskartuschen der Polizei getroffen zu werden, doch der beißende Dampf zieht in ihre Richtung, während des Interviews muss sie immer weiter zurückweichen.

Mwangi hat bis vor Kurzem Geld damit verdient, auf TikTok Bewertungen für Produkte zu posten, es ist ihre erste Demo. »Normalerweise hätte ich jetzt Netflix geschaut und gechillt, doch plötzlich bin ich hier auf der Straße.« Inzwischen widme sie sich in den sozialen Medien nur noch der Politik und dem aktuellen Widerstand, erzählt die 20-Jährige. Eine ganze Generation mobilisiert sich selbst.

Zwar hatte Präsident William Ruto am Vortag noch angekündigt, friedliche Proteste zuzulassen. Doch dann reagierte die Polizei mit aller Härte auf die jungen Demonstrierenden: Sie feuerten Tränengas aus nächster Nähe frontal in die Menge, auch ein SPIEGEL-Korrespondent, der Verfasser dieses Artikels, wurde von einer Kartusche in den Rücken getroffen.

Am Nachmittag eskalierte die Lage. Die Menge skandierte: »Ruto muss weg!«. Eine Gruppe stürmte das Parlamentsgebäude, drang sogar ins Innere vor. Die Polizei schoss mit scharfer Munition auf die Protestierenden, so berichten es mehrere Augenzeugen. Einige sprechen von zehn Toten, die genaue Zahl ist noch unklar.

Am späten Abend hat sich die Lage um das Parlament wieder beruhigt, das Militär ist eingesprungen, Armeehubschrauber kreisten über der Stadt. Dafür zirkulieren immer mehr Bilder von Plünderungen. Auch das Privatgrundstück eines Abgeordneten wurde laut Medienberichten verwüstet sowie ein Büro eines weiteren Politikers in Brand gesetzt. Das ostafrikanische Land, das als Stabilitätsanker auf dem Kontinent gilt, war für einen Tag im Chaos versunken. Was bleiben wird: Eine wütende junge Generation. William Ruto, der kenianische Präsident, steht mit dem Rücken zur Wand.

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Viele der jungen Demonstrierenden richten ihre Wut allerdings auch gegen den Westen. Denn das neue Finanzgesetz, das in seiner ersten Fassung noch viel drastischere Steuererhöhungen – unter anderem auf Brot – vorsah, trägt aus ihrer Sicht die Handschrift des Internationalen Währungsfonds (IWF). Der IWF hat Milliardenkredite an Kenia vergeben. Das Land ist stark verschuldet und auf finanzielle Hilfe angewiesen. Im Gegenzug fordert der IWF höhere Staatseinnahmen und weniger Ausgaben – ein unpopulärer Kurs, der schon in den Neunzigerjahren in mehreren afrikanischen Ländern Proteste auslöste.

Präsident Ruto hat die Steuerschraube nun wohl überdreht. In den sozialen Medien wuchs der Unmut in den vergangenen Wochen immer weiter an – gegen die Regierung, gegen den IWF, aber auch gegen die USA. Präsident Ruto jettete, in einem eigens dafür angemietetem, extragroßen Flugzeug, vor Kurzem noch nach Washington zum offiziellen Staatsempfang, ließ sich dort hofieren, während es zu Hause brodelte. »Wir werden wieder kolonialisiert«, riefen daher viele Demonstranten am Dienstag in Nairobi. Ruto sei eine Marionette des Westens.

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Kenia ist eines der wenigen Länder auf dem afrikanischen Kontinent, die in Europa und den USA noch als stabiler Partner gelten. Weite Teile der Sahel-Zone, aber auch Westafrikas, haben sich vom Westen abgewandt und teils Russland zu. Im Sudan herrscht ein erbitterter Bürgerkrieg. Südafrika ging mit seiner Klage gegen Israel vor dem Internationalen Strafgericht auf Konfrontationskurs. Präsident Ruto hingegen unterstützt die Ukraine und verurteilte erst kürzlich den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Er agiert also ganz im Sinne der westlichen Partner.

Doch nun ist der Westen in der Zwickmühle: Wie umgehen mit einem Partner, der auf Demonstranten schießen lässt, der in der eigenen Bevölkerung immer unbeliebter wird? Nach den heutigen Ereignissen veröffentlichten mehrere Botschaften eine gemeinsame Stellungnahme, darunter auch die Deutsche. Als »Freunde und Partner Kenias« zeigten sie sich darin »zutiefst betroffen von der Gewalt während der Proteste« und bedauerten »den tragischen Verlust von Menschenleben« durch die Nutzung scharfer Munition.

In einer Bar in der Innenstadt von Nairobi bricht am Nachmittag Jubel aus, als die Live-Bilder des gestürmten Parlaments auf den großen Monitoren übertragen werden – und kurz darauf Entsetzen, als leblose Körper auf dem Boden zu sehen sind. Die bekanntesten Künstler des Landes sitzen an einem Tisch zusammen, darunter auch der Musiker Eric Wainaina. Als sein Lied Daima gespielt wird, das inzwischen zu einer Hymne der Protestbewegung geworden ist, stehen alle auf und wedeln mit ihren kenianischen Fahnen.

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Auch der Schauspieler Ngatia Kimathi ist dabei. Er hatte sich bei Protesten in der vergangenen Woche an einem Handkarren festgekettet, wurde verhaftet und so zu einem der bekanntesten Gesichter der Bewegung. Doch dann musste er untertauchen, »Ich hatte Angst«, sagt er. Denn mehrere Mitstreiter verschwanden plötzlich spurlos, vor allem jene, die in den sozialen Medien als Schlüsselfiguren der Proteste gelten. Bei einer Vorführung von ihm seien plötzlich Polizisten in Zivil aufgetaucht, erzählt er. Über einen Hintereingang sei er geflüchtet und in einem Safe House untergekommen.

»Das zeigt, wie hilflos die Regierung ist. Sie versucht die Bewegung zu stoppen, doch es gelingt ihr nicht. Sie sucht Verantwortliche, die es nicht gibt. Und nun lässt sie auf die Leute schießen«, sagt er. Tatsächlich spekulierte der kenianische Regierungssprecher noch am Wochenende über ungenannte »Kräfte im Hintergrund«, die die Proteste koordinieren würden. Doch auf den Straßen der Stadt entsteht ein anderer Eindruck: Die Menschen haben sich über Hashtags vor allem via Kurznachrichtendienst X selbst organisiert.

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»Sie haben es vermasselt, als sie uns Zugang zu Bildung gegeben haben«, sagt Künstler Kimathi ironisch. Seit knapp 20 Jahren sind Schulen in Kenia kostenlos und für jeden zugänglich. Die Gen Z ist also gebildet und reflektiert – und hinterfragt Obrigkeiten.

Um 21 Uhr Ortszeit (20 Uhr deutscher Zeit) hielt Präsident Ruto eine Ansprache an die Nation. Er bezeichnete das Geschehen des Tages als »Terror« und kündigte ein hartes Vorgehen gegen die »Finanziers und Drahtzieher der Anarchie« an. Gleichzeitig versuchte er der Jugend entgegenzukommen, versprach einen Dialog über deren Anliegen. Eines aber machte Ruto ganz klar: Er wolle als Präsident im Amt bleiben.

In den nächsten Tagen wird es nun viele Diskussionen geben: Wie weit darf der Protest gehen? War der Sturm des Parlaments ein Schritt zu viel? Und wie kann man verhindern, dass weiter geplündert und randaliert wird? Denn auch das passierte an diesem historischen Tag in Kenia. Aber die große Frage wird sich am Ende William Ruto stellen müssen: Wie kann er diese Generation jemals wieder einfangen?

Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Fassung dieses Textes war vom Internationalen Strafgerichtshof die Rede. Wir haben die Stelle korrigiert.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

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Die Stücke sind beim SPIEGEL zu finden auf der Themenseite Globale Gesellschaft.

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